Stolperstein Hanna Flörseheim

Wie ein einziger Stein ein Leben erweckt

[Eine Reportage von Mariana Lechterbeck]

Stolpersteine sollen uns jeden Tag an die unschuldigen Menschen erinnern, die von den Nazis ermordet wurden.

Mein Finger streicht über die Buchstaben. Die Geburt. Der Mensch. Sein Tod. Hanna Flörsheim, Jahrgang 1931, deportiert 1941 nach Minsk in ein Ghetto der Nazis. Im selben Jahr ermordet. Mein erster Gedanke ist: Sie war noch ein Kind.
Die Messingplatte glitzert im Sonnenlicht. Ein neuer Samstagmorgen in Hamburg. Die Leute sitzen in den Cafés und trinken ihren Latte. Die junge Frau schiebt ihren Kinderwagen, das alte Paar schlendert gemütlich am Grindelhof die Straße entlang. Sie alle vergessen im herbstlichen Duft der Linden, dass dies einmal ein Judenviertel war. Wissen sie überhaupt von Hanna? Dem kleinen Mädchen, das hier wohnte? Oder wissen sie von ihrem Vater Dr. Arthur Flörsheim, ihrer Mutter Frieda und der großen Schwester Margot?
Ein Fuß verdeckt den Stein, und mit ihm die wenigen Buchstaben, die doch so viel sagen wollen. Ein Weiterer folgt. Sie übersehen, überrennen, verdrängen die Erinnerungen an diese Familie. Doch wie viele Menschen bemerken die Stolpersteine? Wie viele achten und kennen sie?

1995 begann Gunter Demnig in Köln, seiner Heimatstadt, die ersten Stolpersteine zu verlegen. „Tot sind nur die, die man vergisst […]“, so steht es auf der Stolperstein-Homepage. Demnigs Ziel ist es, eine Botschaft zu hinterlassen. Der Stein, ein Betonwürfel 10 x 10 x 10 Zentimeter groß, auf einer Messingplatte sind die Lebensdaten eines der ermordeten Nazi-Opfer des zweiten Weltkriegs festgehalten, sagt viel mehr, als man auf den ersten Blick erkennen mag. Er erinnert fast unauffällig an die Juden, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung, Roma und WiderstandskämpferInnen gegen das Hitlerregime zwischen 1933 und 1945. In ganz Europa wurden bereits mehr als 46 000 Stolpersteine verlegt, die nun den Boden an 1100 verschiedenen Orten bedecken. Allein in Hamburg gibt es rund 4700 solcher Erinnerungsstücke,
die Gunter Demnig bis auf vereinzelte Ausnahmen selbst verlegt hat. Das Projekt, das 2002 auch in Hamburg begonnen wurde, wird durch ehrenamtliche Initiativen z.B. von zahlreichen Geschichtswerkstätten gefördert und finanziell unterstützt.
Das Stolperstein-Projekt fand von Anfang an eine hohe Akzeptanz bei den Hamburgerinnen und Hamburgern. Jeder kann eine Patenschaft übernehmen, dass heißt einen Stolperstein auf eigene Kosten verlegen lassen und ihn pflegen. Oft sind es die heutigen Bewohner eines Hauses, in dem ein Nazi-Opfer damals gewohnt hatte.
Auch setzte sich die Politik in Hamburg sehr intensiv mit der Verlegung der Steine auseinander. Zwischen 2002 und 2003 stützte man sich erstmals auf Kopien von Deportationslisten im Staatsarchiv Hamburg, um die Lebensdaten der Opfer zu ermitteln. 2004 fand man Anschriften und weitere Informationen in jüdischen Gemeinden Hamburgs. Mittlerweile hat man auch ganze Biographien der Opfer recherchiert und veröffentlicht. Diese konnte man vor allem mit Hilfe von Berichten Überlebender herausfinden. Außerdem ergaben sich aus einzelnen Opfern Hinweise auf Familienmitglieder, weshalb die Ergebnisse enorm erweitert wurden. Ein Problem der Forschungen war jedoch die Änderung von Straßennamen und Verlegung der damaligen Bewohner, weshalb manche Steine doppelt auftreten.

Doch warum eigentlich ein Stein, fragen sich viele. In der Bibel finden sich zahlreiche Textstellen, die Bezug auf Steine nehmen: „Sein Herz ist gegossen so hart wie Stein.“ Die Botschaft der Steine lautet daher, dass ein jeder Stein, selbst der Härteste, Schmerzen spüren könne, wie es der Mensch in seiner „Qual“ fühle. Wenn dieser Stein, dieses scheinbar unzerbrechliche Herz, Zeuge eines so grausamen Verbrechens würde, so solle er die Vergangenheit „ausschreien, mahnen und erinnern“, steht es auf der Homepage zu den Stolpersteinen. Uns Menschen scheinen die alltäglichen Geschichten, die einzelner Personen eher bedeutungslos. Was uns interessiert, ist das große Ganze. Der Massenmord, die Konzentrationslager, das Verbrechen. Aber gerade weil diese Steine immer über eine Person erzählen – hier wohnte Hanna Flörsheim – über die Geschichte eines scheinbar bedeutungslosen Menschen, erinnern sie unauffällig, aber doch so deutlich, dass wir ins Nachdenken kommen. Das stellt die Besonderheit dieser Steine dar.

Doch stimmt das? Erinnern sich die Menschen wirklich? Stolpern sie? Oder übersehen sie die Steine vielleicht sogar wegen des schlechten Gewissens, das sie dabei packt?

Bei einer Befragung am Grindel vor der Haustür einer jüdischen Familie finde ich Antworten. Alle neun Befragten, darunter Männer wie Frauen, jungen, mittleren und fortgeschrittenen Alters, Hamburger, Italiener und Süddeutsche, kennen die Stolpersteine. Bei der Frage, ob sie auch Hintergrundinformationen kennen würden, fielen die Antworten unterschiedlich aus. Zwar kennt die Mehrzahl den Grund und die Absicht der Stolpersteine, beschränkt sich darin jedoch auf die Ermordung von Juden und nicht auch von Homosexuellen, Menschen mit Behinderung, Roma oder Widerstandskämpfern. Allgemeines Hintergrundwissen über den Künstler Gunter Demnig oder die Förderung des Projektes war etwa fünf Personen unklar. Unter den weiteren vier Befragten befanden sich zwei, die einen Stein bezahlt und verlegt, eine die den Künstler persönlich kennengelernt hatte und eine andere, deren Vater mit Demnig zusammenarbeitet und mit ihm das Buch „Vor meiner Haustür“ veröffentlicht hat. Dass sich unter einer so geringen Anzahl an befragten Passanten bereits welche finden, die im engeren Kreis des Künstlers auftreten, war zunächst überraschend. Die Mehrzahl an Personen war außerdem der Überzeugung, dass die Steine ihren Zweck erfüllen würden. Gerade durch ihr außergewöhnliches und unauffälliges Verhalten und die Verteilung in der ganzen Stadt. „Man stolpert halt so drüber!“ Eine Passantin meinte sich an eine Aktion zu erinnern, bei der man am Abend an jeden Stolperstein in Hamburg eine Kerze stellte. Als es dunkel wurde, habe man überall diese kleinen Lichter gesehne, sagte sie. „Man konnte den Steinen durch das Viertel hier folgen.“ Dieses Ritual wird jedes Jahr von der Nacht des neunten auf den zehnten November wiederholt, in Erinnerung an die „Reichskristallnacht“ 1938.
Andere waren der Meinung, viele Leute würden nicht von den Steinen wissen. Wenn der Stein nicht direkt vor der eigenen Haustür liege, würde man ihn sehr schnell übersehen und einfach drauftreten.

Um meine Fragen und die Antworten zu konkretisieren, habe ich ein Interviewtermin mit Ruben Herzberg. Er ist Jude und bis Ende 2017 Leiter des Ganztagsgymnasiums Klosterschule in Hamburg gewesen, ein freundlicher Mann. Seine blauen Augen lächeln mich an. Er sieht weise aus, wie er dort sitzt, in seinem Schreibtischstuhl und offen von seiner Vergangenheit und seinen Gedanken erzählt. In den ersten Jahren der Naziherrschaft fliehen seine Eltern nach Palästina. So wird Ruben Herzberg 1951 in Israel geboren. Bis zur ersten Klasse wird er hauptsächlich durch sein Umfeld jüdisch geprägt. Seine Eltern beschränken sich weder durch Vorschriften noch Feiertage des Judentums und tragen keine strengreligiöse Haltung. Zuhause wird auch Deutsch gesprochen, in der Schule Hebräisch. Danach zieht die Familie wieder nach Deutschland. Herzbergs Großeltern waren Opfer des Holocaust; sie wurden von den Nazis in Auschwitz und anderswo ermordet. Um diesem Verbrechen nachzugehen, studiert er Geschichte und Deutsch, in der Hoffnung, die Fragen, die sich ihm aufgrund dieser Ermordung offenbaren, beantworten zu können. Trotz vieler Antworten, überlegt Herzberg, zurück nach Israel zu kehren. Doch seine große Liebe und vor allem die Studentenbewegung der sechziger Jahre halten ihn in Deutschland. Er zeigt sich beeindruckt von den kritischen Äußerungen seiner Generation gegen die Verbrechen der Nazis. Heute sind auch die Stolpersteine ein Symbol für die Abneigung gegen den Antisemitismus.
Ruben Herzberg meint, es sei eine „großartige“ Idee. Manchmal bleibe er stehen, um zu gucken, was die Leute mit den Steinen machen. Manche würden genau schauen, zum Teil ganze Familien, um sich zu erinnern und sogar nachzurechnen, wann die Leute geboren und wann sie ermordet wurden. Auch in seiner Schule findet sich eine intensive Auseinandersetzung mit den Steinen. Aus Unterrichtssituationen ergaben sich die Förderungen dreier Stolpersteine vor dem Schultor. „Jeder Versuch, Menschen mit Problemen zu beschäftigen, ist anstrengend, denn es ist ja sehr viel schöner, wenn man sich nicht mit Problemen beschäftigt, sondern die schönen Seiten des Lebens auf sich wirken lässt und das finde ich auch wichtig […] Ich mache mir manchmal richtig Sorgen, dass wir in der Schule zu viel Problemorientierung vermitteln und zu wenig schöne Dinge […] bearbeiten“. Trotzdem finde er diese Themenbearbeitung der „Grässlichkeiten“ gut und wichtig, um sich ein Bild von der Welt zu schaffen, wie sie eben einmal ist. Doch die Stolpersteine mahnen uns nicht nur. Sie erzählen uns jeden Tag von dieser Problematik, die Herr Herzberg erwähnte. Es vergehe kein Tag, an dem er nicht an Auschwitz denke und an seine Großeltern, obwohl er sie nicht einmal kennengelernt habe. Eine Familie, in der jemand auf grausamste Weise ermordet wird, lebt in ständiger Angst. Sie wurde nicht nur eines Menschen beraubt, eines Teiles ihres Herzen, sondern ihnen wurde auch die Gewissheit genommen, in Sicherheit zu leben, die Gewissheit, auf dieser Welt willkommen zu sein, die Gewissheit, auf natürliche Weise zu sterben.

Hanna Flörsheim (1931–1941), ihre Mutter Frieda Flörsheim, geb. Valk (1902–1941), ihr Vater Dr. med. dent. Arthur Flörsheim (1890–1941), ihre Oma Elise Valk (1873–1941) und ihre ältere Schwester Margot Flörsheim (1927–1941), vermutlich 1940 fotografiert. Im November 1941 wurden sie alle von Hamburg nach Minsk im überfallenen Weißrussland deportiert und dort von den Nazis ermordet.

Sind die Stolpersteine also gut, wenn sie die Hinterbliebenen doch jeden Tag an diese Ungewissheit erinnern?

Doch Herzberg helfe es, dass sich nicht nur Betroffene, sondern viele Menschen mehr mit dem Thema beschäftigen, dass also alle erinnert werden. Jeden Tag! Jeden Weg, den sie durch Hamburg gehen! Jeden Weg, den auch die Ermordeten gegangen sind. 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September. Dabei stand in Deutschland unter der Führung von Adolf Hitler die Ausrottung der Juden im Vordergrund, um ein „judenfreies Deutschland“ zu schaffen. Homosexuelle, Menschen mit Behinderung, Roma und Widerstandskämpfer wurden ebenfalls verfolgt und hingerichtet, da sie nicht in das Bild passten, das Hitler vor Augen hatte. Für den Massenmord und das grausame Vergehen an rund sechs Millionen Juden wurden sogenannte Konzentrationslager errichtet, in denen die Menschen entweder sofort ermordet oder zunächst harte Arbeit verrichten mussten und schließlich gefoltert, erschossen, erhängt oder vergastt wurden. Sie unterlagen ständiger psychischer und physischer Gewalt und Folter. In Auschwitz, einem der größten Konzentrationslager der Zeit, brachte man über 1 500 000 Menschen um. Dies gelang den Nazis durch Propaganda und Aufhetzung des deutschen Volkes gegen die Juden, die für ihn einen Feind darstellten. Kinder wurden in die „Hitlerjugend“ geschickt und dort über die „Rassentrennung“ geschult. Dies jedoch auf eine sehr manipulative Weise, bei der man viele der Jungen und Mädchen überzeugte, für Hitler in den Krieg zu ziehen, aber vor allem, die Juden zu „hassen“. 1945 verlor Deutschland den Krieg und wurde von Frankreich, Russland, den USA und Großbritannien besetzt. Hitler brachte sich um, doch er und seine Anhänger hinterließen viele Wunden, viele Ängste und viele Menschen, deren Schicksal sie ein Leben lang begleiten würde. „Und dann habe ich gedacht“, sagt Ruben Herzberg, und rückt ein Stück näher an mich heran, ein kleines Lächeln huscht über seine Lippen, „wenn ich hier bleibe, und ein paar andere auch, dann beweisen wir damit am Ende, dass Hitler und seine Freunde eben nicht Recht behalten haben. Deutschland ist nicht judenrein!“ Er lacht auf.
Und die Stolpersteine? Sind sie nicht auch ein Zeichen dafür, dass Deutschland nicht „judenrein“ ist?

Jeden Tag, wenn wir über einen solchen Stein stolpern, erinnern wir uns an eine Person und erwecken sie zum Leben. Ja, vielleicht stolpern wir nur, vielleicht sind es nicht viele, die stolpern, aber die, die es tun, für die ist es ein Anreiz, über diese Zeit nachzudenken und an Projekten wie dem der Stolpersteine mitzuwirken. Es ist schmerzlich, jeden Tag aufs Neue an die schrecklichen Taten von damals erinnert zu werden und gleichzeitig schön, zu wissen, die Menschen von damals nicht zu vergessen und ihr Leiden nachzuvollziehen. Und vielleicht sind die Steine deshalb ein guter Kompromiss zwischen Vergangenheit und Gegenwart, dem Recht der Ermordeten, sie am Leben zu erhalten und dem Recht der Lebenden, zu leben.

Mein Finger ruht noch eine Weile auf den Buchstaben. Es ist warm und der Himmel ist blau. Ich rieche auch die Linden und lasse die Sonne in mein Gesicht scheinen. Aber ich vergesse nicht. Ich denke an Hanna. An das kleine Mädchen, das auch mal hier stand. Und obwohl es wehtut zu wissen, dass sie so früh sterben musste, weiß ich doch, dass es nun eine Person mehr gibt, die sie durch Erinnerungen wieder lebendig werden lässt.

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